Aethiopien-eine kleine Bilanz

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Eineinhalb Tage vor der Abreise ziehe ich eine kleine schriftliche Bilanz ueber unseren Aethiopienaufenthalt.

Aethiopien war und ist fuer mich mit Abstand das haerteste Reiseland bisher (das mag nichts heissen, vielleicht veraendert sich der Massstab im Lauf der naechsten Monate). Habe ich mir vor Antritt der Reise noch eingebildet, dass ich das Land auch ohne den Nane bereisen wuerde, so kann ich jetzt sagen, dass das sicher verdammt hart gewesen waere. In Aethiopien wird die Liebesfaehigkeit des Reisenden Tag fuer Tag aufs haerteste geprueft. Das heisst, es passiert alles nur erdenklich und auch unvorstellbar moegliche, was einem die Unverstaendnis, Wut und die Ungeduld etc. aus den finstersten Winkeln der eigenen Seele herauskitzelt, wo man sonst nicht so schnell hinkommt. Wenn man hier ohne einen guten Freund unterwegs ist, mit dem man die Dinge beleuchten, sich gegenseitig ein bisschen aufmuntern und auch einen gewissen Galgenhumor pflegen kann, mag man unter Umstaenden der Verzweiflung sehr nahe kommen.

Besonders schwierig sind der oeffentliche Verkehr mit allen bereits ausfuehrlich beschriebenen Tuecken…die schleissigen Hotels mit staendigen Strom- und Wasserausfaellen, kaputten Sanitaerteilen und nur verstaendnislos dreinschauenden Rezeptionisten, die einem auch bei allen Unannehmlichkeiten keinen mm entgegenkommen…Lokale, die immer gerade das nicht haben, was einem als einziger Bestandteil der einfachen Speisekarte anlachen wuerde…die Abwesenheit von so ziemlich allen Dingen, die einem das leibliche Wohl daheim versuessen…der staendige anwesende Fanclub von Leuten, die voll innerem Stress irgendwie nach einer Moeglichkeit geifern, einem ein paar Kroeten abzuschwatzen, und ihren Stress auf einen abladen…Floehe, Wanzen, Moskitos und anderes Ungeziefer…die Tatsache, dass ganz offen fuer ein und dieselbe Sache 2 Preise gelten und je nach Situation willkuerlich angenommen werden: der Preis fuer Einheimische und der fuer den Auslaender (bis 20 mal so hoch). Das kann heissen, dass man mit einem Aethiopier ein Cola trinken geht und dann nicht 2 Cola auf der Rechnung stehen, sondern ein Einheimischen- und ein Ferenjicola (dieses kostet 5 mal soviel, ist aber genau dasselbe). Die Leute kapieren teilweise ueberhaupt nicht, warum man als Reisender hier sauer werden kann….das macht einen dann bei fehlender Selbst- (oder Fremd-)kontrolle noch saurer. Aethiopien steckt in den touristischen Kinderschuhen und die Leute haben keine Ahnung, worauf es ankommt. Ich befuerchte, dass das auch auf alle anderen Wirtschaftszweige (Landwirtschaft ausgenommen) zutrifft, und ich stelle mir es als einen Alptraum vor, nur irgendeiner wirtschaftlichen Taetigkeit in diesem Land nachgehen zu muessen.

Ja, die Latifundien Haile Selassies liegen darnieder, auch wenn sie fast flaechendeckend landwirtschaftlich bearbeitet und von riesigen Rinderherden begrast werden…ueber die Armut laesst sich nicht hinwegsehen und am meisten leiden die Einheimischen darunter…ueberall gibt es Kranke, Behinderte, Obdachlose, Waisen. Kinder, die nur Lumpen am Leib und keine Schuhe haben, nicht zur Schule gehen und alleine in der Grosstadt und bei Kaelte auf einer finsteren Kreuzung uebernachten muessen.

Die Menschen ertragen hier unvorstellbar viel. Das faengt schon bei den kleinen Dingen an, die einen als Auslaender furchtbar nerven, die der Einheimische aber nicht zu bemerken scheint und so auch nicht die Notwendigkeit der Veraenderung. Ich hab mich schon in Suedamerika gefragt, ob das auch eine Ursache fuer die schlimmen Zustaende ist, dass die Menschen soviel ertragen koennen…?

Im Grossen und teilweise ganz verborgen im Kleinen merkt man, dass die Menschen aus ihrem umfassenden materiellen Mangel heraus nicht im Stande sind, sich selber und anderen etwas mehr menschliche Wuerde zu geben. Besonders die Frauen kommen in diesem Land uebergebuehr zum Handkuss. Ob auf Baustellen beim Steinklopfen und -schleppen, auf dem Felde, beim Holz- und Wassertragen,…ueberall wird die haerteste Arbeit von Frauen gemacht oder von Kindern. Die Maenner machen sich je nach Moeglichkeit ein schoeneres Leben, was aber am Land draussen auch nicht so einfach ist. Wird Mittelamerika immer als Region der Machos hingestellt, so moechte ich behaupten, dass hier in Aethiopien die Benachteiligung der Frau ein viel viel weiterreichends Ausmass hat. Der Schluessel fuer eine Zukunft in mehr Fuelle wuerde aus meiner Sicht auch in diesem Bereich liegen. Aber auch die Maenner leiden in der Armut. Nur ganz wenige Superreiche gibt es hier, wie ueberall, wo die Menschen arm sind. In den Staedten sieht man aber auch einen gewissen Mittelstand.

Aber so einfach liegen die Dinge sicher nicht, und ich moechte auch nichts beurteilen, was ich hier gesehen habe. Das waere auch anmassend, bestimmt zerbrechen sich kluegere Menschen ihre Koepfe darueber…hoffentlich.

Unsere persoenliche Bilanz ueber diese Reise sieht aber super positiv aus und an dieser Stelle bitte ich, die 2 Wutgeschichten von mir nicht zu ueberbewerten. Wer sich frei von Zorn glaubt, reise ein paar Wochen mit dem Bus durch Aethiopien…Uebrigens: wir haben 6000 km im Bus abgeradelt, insgesamt 170 (!) Stunden in den dreckigen Rostschuesseln abgesessen. 25 mal haben wir den Schlafplatz gewechselt. Ich hab 6 Kilo abgenommen. Anstrengend also.

Nur sowenig zur Statistik, jetzt das Essentielle.

Ich persoenlich habe noch kein Land mit solch freundlichen, offenen und netten Menschen kennengelernt. “Der Aethiopier” naehert sich mit viel Liebe und ohne Hintergedanken an den Fremden an, nimmt Anteil, ist hilfsbereit und interessiert.

Habe mir dieser Tage die Frage gestellt, was der globale Beitrag Aethiopiens zu einer besseren Welt sein koennte. Die Antwort lautet ganz klar: die Warmherzigkeit und offen gelebte Naehe von Mensch zu Mensch . Diese spuert man hier ueberall. Wenn man auf der Strasse geht, laechelt einen jeder an, man wird angesprochen und gegruesst, in den Augen der Menschen sieht man viel Liebe. Nicht nur Fremden gegenueber, auch untereinander sind die Leute ueber alle Alters- und Geschlechtsgrenzen hinweg nett zueinander, und das ohne Scheinheiligkeit. Unfreundlichkeit begegnet einem hier nicht. Das Raufen um einen Sitzplatz im Bus ausgenommen, aber auch das wird mit Humor genommen. Ja, es wird viel gelacht, die Leute haben keinen uebertriebenen Ernst. Nach nunmehr 7 Wochen in diesem Land haben wir uns an diesen, doch paradiesischen Zustand sicher ein wenig gewoehnt und wuerden erst bei einer Heimkehr nach Europa unsanft aus diesem Traum geweckt werden. Es sind wohl fuer alle Reisenden vor allem die kulturellen Besonderheiten und unglaublichen Lanschaften, die einen nach Aethiopien locken (so auch uns), diese haben wir auch gesehen und gemocht. Tatsaechlich findet man hier aber das kostbare Juwel der Menschlichkeit, das wir in unserem Herzen weitertragen und am Leben halten koennen, waehrend die Namen und Bilder der touristischen Orte doch langsam verblassen werden.

Ja, ich habe die Menschen hier echt lieben gelernt. Und: ich traue mich zu sagen, dass mich die 8 Wochen hier auch zu einem freundlicheren und offeneren Menschen gemacht haben. Man tut sich hier denkbar leicht, anderen Menschen im gebenden Prinzip gegenueber zu treten, ohne dass es einen auslaugt. Es ist die Erfahrung eines schoenes Gebens und Empfangens, von dem man sich gerne anstecken laesst. Ein schoenes Beispiel fuer diese Lebensart haben uns neben den Aethiopiern auch die irischen Priester, John und Paddy, gegeben, die wir zu den nettesten und doch authentischen Menschen zaehlen duerfen, die uns je begegnet waren.

Ernste Probleme hatten wir in Aethiopien nicht. Man ist hier sehr sicher, selbst wenn man in der Grossstadt zu Mitternacht bei Stromausfall herumirrt. Kriminalitaet ist hier nicht einmal zu erahnen, man hoert auch nichts darueber, und dass bei fast vollkommener Abwesenheit der Polizei. Kein Vergleich mit den Polizeistaaten Lateinamerikas.

Die Liebe fuer Aethiopien verbindet uns mit diesem Land. Wir wurden hier reich beschenkt und unwahrscheinlich gut behandelt. Moege dieses Land und seine unglaublichen Menschen mit einer guten Zukunft gesegnet sein. Wir loesen uns dennoch ohne Wehmut, sondern nur voller Dankbarkeit, von hier und freuen uns wie die Schneekoenige (passt zwar in dem Fall nicht so, da es die dort wohl etwas zu heiss haben wuerden) auf das Land der Pharaonen und auf das, was sich dort fuer uns entfalten wird. Hier in Aethiopien ist alles gut abgerundet und erledigt, wir fahren hoechst bereichert und freudig weiter.

Mein Resumee: Aethiopien ist wie eine aufregende Geliebte, die einen sicher nie langweilig wird: von aeusserer und innerer Schoenheit, meist wohltuend liebevoll, zwischendurch aber wieder unheimlich zickig, widerspenstig und eine Herausforderung, die einen wachsen laesst…

…geheiratet wird aber nicht, also fahren wir weiter 😉

3 Gedanken zu „Aethiopien-eine kleine Bilanz

  1. ev

    ach mein lieber jörgsi. ich liebe deinen humor. so eine frau suchst du also. aha. jaja! und die geliebte wird soundso nicht geheiratet. und sonst auch niemand. geh?

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  2. Stefan

    Hola Hermano,
    habe heute mit viel Freude Dein Resume gelesen und es hat mir sehr sehr zugesagt. Ich habe gestern mit einer Frau telefoniert, die im April mit nach Guatemala geht, und die voller Angst ist: Erdrutsche, Überfälle, ….
    Bei dem, was ich ihr erzählt habe sehe ich Parallelen zu Deiner Zeit in Äthiopien. Du hast Dich schon so lange auf die Reise gefreut, hast Dich vorbereitet, bist mit offenem Herzen und voller Liebe dorthin gereist, dass das Land Dich als Freund und Liebender erkannt hat. Darum wurdest Du auch von deiner eigenen Freude und Liebe durch dieses Land getragen. Und die freundliche Art, mit der man Dir begegnet ist, ist auch ein Echo auf Deine Freundschaft zu den Äthiopiern.
    Die Art wie Du reist, soll viele von uns anstecken und uns zeigen, dass es besser sich vorab mit der Schönheit, der Kultur und den Menschen eines Landes zu befassen, als auf en Seiten des auswärtigen Amtes in Deutschland die schockierenden Warnungen zu lesen.

    Ich wünsche Dir und Euch, dass Ihr auch in Ägypten als Freunde erkannt werdet.

    Alles Liebe
    Stefan

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  3. muma

    so, nun bin ich wieder online…hatte eine starke arbeitswoche…

    die letzten berichte haben mich amüsiert, vor
    allem der vergleich mit der doch sehr geduldigen geliebten, die absolut nachahmenswert scheint (für dich) und der es auch geslungen ist, dir geduld abzuverlangen… wirkt schon!!! Da kann man nur hoffen, dass diese lektion sehr lange anhält oder überhaupt von dauer ist!
    Danke also für die so einfühlsame zusammenfassung “Äthiopia”- sie muss weiblich sein!
    viel liebe und alles gute dir und nane für ägypten

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