“Die Lemminge drehen um” oder “Die Lehre von Samarkand”

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ACHTUNG; SUPERLANGER ARTIKEL, KAUM BILDER! NUR FÜR DEN BESONDERS INTERESSIERTEN LESER! VOR ALLEM ZUR EIGENTHERAPIE DES AUTORS GESCHRIEBEN!

Ostern ist vorüber. Seit über einer Woche sind wir jetzt in Samarkand.

Die schönen Sehenswürdigkeiten der Stadt waren doch recht bald besichtigt, das Spaßpotential der einheimischen Bevölkerung schon 2 Meter nach der Ortstafel verbraten und so verbrachten wir die Osterfeiertage mit dem, was man im morbiden sowie leider zunehmend saukalten und verregneten Samarkand so richtig gut kann: Ruhe geben, sich besinnen und nachdenken – in die eigenen Tiefen hinabsteigen und ein paar kleine Tode sterben (aber nicht im französischen Sinn). Meine-unsere Ostergeschichte:

Erst hatten wir uns einmal vorösterliches Fasten und Schweigen verordnet. Die paar Tage brauchte ich, um wirklich in die Ruhe zu kommen und schließlich einfach nur da sein zu können, ohne ständig etwas tun oder organisieren zu wollen, so wie wir das von den letzten Monaten der Reise gewohnt waren. Diese innere Ruhe habe ich dann doch sehr genossen und als Geschenk angenommen.

Aus der Ruhe heraus wurden dann langsam leise innere Stimmen vernehmbar, die man im sonstigen Trubel einfach überhört, und formten sich wieder zu Gedanken…eine ganz wichtige und im Prozess der letzten Tage lauter werdende dieser Stimmen war die des Zweifels…Eine unpopuläre Stimme, die in unseren „Machergesellschaften“, die uns und unsere geliebte Erde beherrschen und mit ihrem „Machertum“ und dem Verbreiten ihrer Weltbilder fertig gemacht haben, nur gering geschätzt und höchstens den „Schwächlingen“ zugeordnet wird. Dabei ist der Zweifel wertvoll und lebensrettend, wenn man es schafft, ihn als Instanz der Selbstkontrolle und des Hinterfragens im rechten Ausmaß zuzulassen und ins Leben zu integrieren. Eine Übung, die für den willensstarken (Nane) oder gar sturen (ich) Menschen wichtig und schwierig zugleich ist…

Man trifft ja hier an der sagenhaften Seidenstrasse nicht gerade viele Individualreisende. Die, die man trifft, sind aber richtige Hardcoretraveller. Moderne Helden, die ganz Asien gesehen haben (wollen) und sich jetzt auch noch über die komplette Seidenstraße mit dem Rad oder sonstigen freiwillig auferlegten Erschwernissen durchkämpfen wollen und dafür mit eiserner Willenskraft und viel Zeit ausgestattet sind. Wenn man mit denen so redet, merkt man aber relativ schnell, dass da ein Film rennt, in dem man selber nicht gerade eine Hauptrolle spielen wollte. Etwas, was ich bei den Reisesüchtigen oft bemerke und was auch von den Reiseführern und -magazinen etc. noch angeheizt wird, ist der Ehrgeiz und die Gier, alles (gesehen und gemacht) haben zu wollen. Zuerst in einer Stadt, in einem Land, schließlich auf einem Kontinent oder gar der ganzen Welt. Eine unerfüllbare Mission, ein Ritt gegen Windmühlen und dennoch ein Irrsinn, dem viele verfallen, denen daheim die Decke auf den Kopf fällt und die sich eben auf diese Art unter Spannung halten müssen. So trifft man schon hier in Usbekistan Leute, die einem mit irre weit aufgerissenen Augen erzählen, welchen chinesischen Sonntagsmarkt an der Seidenstraße man auf keinen Fall verpassen dürfte, als ob man sonst gar nicht mehr zur Spezies Mensch gehören könnte.

Wir sind ja keine Kamele!

Wir sind aber auch keine Kamele!

Da wurde schnell eines klar. Ich unterscheide mich von diesen Reisenden, und der Nane sicher auch, in einem wichtigen Punkt: Für uns ist das Reisen kein Selbstzweck, und das habe ich mir hier noch einmal hinter die Ohren geschrieben. Natürlich könnte man sagen, man reist in die Welt hinein und sammelt am Weg möglichst viele Eindrücke für sich selber und Bilder zum Herzeigen, soweit das Geld reicht, weil Zeit hat man ja eh…aber für mich kommt das nicht in Frage! Dabei gehen einem nämlich immer mehr bunte Fantasien, Reiseziele, Reisewetterdiagramme, Flugzeiten, Wegenetze und Feiertage durch den Kopf, die sich zu einer unlösbaren Optimierungsrechnung verbünden und einem die letzten Gehirnwindungen glätten, sodass man für das „reguläre“ Denken und vor allem das entspannte Sein keinen Platz und für die innere Stimme kein Gehör mehr findet.

und Schafe sind wir auch keine

und Schafe sind wir auch keine

Nur allzu schnell kommt man aber selber in ein Fahrwasser, wo man eine Ahnung bekommt, wie es ist, wenn einen diese Gier und der falsche Ehrgeiz packen. So zu enden war nie unser Ziel, auch wenn wir bei genauem und ehrlichem Hinsehen jetzt doch feststellen mussten, dass vielleicht der eine oder andere Plan für unsere Reise nicht gerade frei von diesen unreinen Antrieben ist bzw. war. Es kommt ja im Leben (ob daheim oder auf Reisen) mehr darauf an, zur richtigen Zeit am richtigen Ort konzentriert präsent zu sein, als auf allen Kirchtagen zu tanzen und sich selber und den eigenen Herzensauftrag dabei aus den Augen zu verlieren. Vielleicht wollen das manche sogar, bewusst oder unbewusst. Wir wollen das aber bewusst nicht.

Natürlich nicht zum ersten mal aber vermehrt ging mir in den letzten Tagen auch durch den Kopf, was da nach dem Reisen kommen soll, und ich sehne mich mehr und mehr danach, dass eine neue sinnvolle Aufgabe bzw. eine Idee in diese Richtung am Horizont auftaucht. Was das sein könnte, darüber denke ich viel nach, denn in den alten Job will ich an sich nicht zurück. Nicht das der so schlecht gewesen wäre, aber da muss es noch was Interessanteres geben, eine neue Herausforderung zum Weiterwachsen…noch Zukunftsmusik…

Vor ein paar Monaten sind wir losgebolzt, der Nane und ich. Mit einem klaren und ehrgeizigen Reiseplan, der noch um einiges früher entstanden war. Die unliebsame und leise-sanfte Stimme des Zweifels wurde aber erst hier in Samarkand zugelassen und gehört. Und bestimmt haben auch die morbide Atmosphäre, die Leere und Weite vor den Toren Samarkands, der nicht enden wollende Regen und das schwer unterkühlte Temperament der Einheimischen (für „Spaß“ gibt es hier womöglich nicht einmal ein Wort, und wenn dann heißt es vermutlich „Vodka“), mit dazu beigetragen, dass Nane und ich die folgende Entscheidung getroffen haben:

Der Rest der Seidenstraße wird storniert, alle anderen zeit-, kraft- und nervenaufwändigen Larifari-Roadtrips auch – scheiß doch der Hund auf die „Traveller-Ehre“!!!

Stattdessen wird gezielt dorthin geflogen, wo man echt gerne hin will und hin gerufen ist. Die Reise wird nicht unnötig lange hinausgezogen sondern auch in Zufriedenheit beendet, wenn kein Konzept für die Zeit danach vorliegen sollte. So wird es jetzt gemacht. Der Nane fliegt ja im Juni wegen einer Hochzeit heim, wahrscheinlich komm ich da mit und gebe mir eine Besinnungs- und Verarbeitungspause in der schönen Heimat. Bis dahin peilen wir wahrscheinlich noch einen ausgewählten Spot an. Welcher das sein wird, hängt von ein paar Dingen ab und wird sich ergeben…schauen wir mal! Im Sommer wird dann vom neuen Standpunkt aus nachgeschaut, ob es eine zweite Reiseetappe geben soll und wohin diese führen könnte. Dann aber dorthin, wo das Herz hin möchte und nicht der Ehrgeiz, die Sensationsgier oder ähnlich trügerische Gespenster, die da in unseren Hirnen rumgeistern.

So sehr wir uns eingebildet hatten, dass wir uns auf unserer Reise maximale Flexibilität erlauben, so schwierig waren dann doch der Prozess und das innere Ringen, bis wir soweit waren und uns von dieser fixen Idee einer außergewöhnlichen, spektakulären und spannenden Reise entlang der Seidenstraße verabschieden konnten. Die Traveller-Krone, um die so viele wie besessen rittern, darf sich gerne wer anders aufsetzen…uns kann dafür kein Stein aus der Krone sondern nur vom Herzen fallen, wenn wir hier umdrehen. Wir sind ja doch Menschen und keine ferngesteuerten Lemminge!

Lemminge wollen wir auch keine sein!

Lemminge wollen wir auch keine sein!

Samarkand wurde also für uns zum Wendepunkt und das fühlt sich so richtig gut und friedlich an.

Wir waren hier 9 Tage und 9 Nächte. Acht Tage davon hat es größtenteils geregnet (genauso viel Regentage wie unser Reiseführer für den ganzen Monat April in diesem Land als langjährigen Durchschnitt anführt). Dazu war es ungewöhnlich saukalt, meist wohl unter 10 Grad, wir haben wirklich dauernd gefroren, da auch unser „Zimmer“ weder beheizt noch isoliert war. Der Wind war eisig kalt, die Einheimischen auch. Das Zeug, was die hier Essen nennen, haben wir nur des großen Hungers und des Überlebenswillens ( 😉 ) wegen und nicht ein einziges Mal aus Appetit darauf verzehrt.

BRRR...es wird koit und immer köta

BRRR...es wird koit und immer költa

unsere Bude!...die Made auf dem Bett ist der Nane im Schlafsack

unsere Bude!...die Made auf dem Bett ist der Nane im Schlafsack

„Und gerade dieser Ort soll uns gerufen haben? Was zum Henker haben wir hier bloß verloren?“, hatten wir uns gefragt. Die Antwort ist für mich jetzt klar: der Henker von Samarkand musste einfach seinen Scheißjob machen und wir durften uns von ihm unsere eh schon viel zu vernarbten Sturschädel mit einem trockenen Schlag abhauen lassen. Diese waren uns im bisherigen Leben für Job und Uni und die Selbstbehauptung in dieser verrückten Welt sicher sehr hilfreich, die Zukunft darf aber ruhig anders aussehen…

Der Weg nach Samarkand war für uns wohl vorgezeichnet. Ich schätze, wir mussten genau hierher und diese doch lange Zeit unter den recht unwirtlichen Umständen verbringen, damit unsere Sturheit und unser Stolz zerlegt wird und wir uns gestatten, unsere Pläne nicht nur im Kleinen zu ändern sondern unsere starren Konzepte aus fixen Ideen vollkommen einzureißen und ihnen nicht mehr weiter treu zu folgen, wenn die innere Stimme klar hörbar wird und was anderes sagt. Alexander der Große und Dschinghis Khan haben hier in Samarkand gewütet und nicht umgedreht sondern ihre verheerenden Wege der Zerstörung weiter fortgesetzt. Bestimmt ist es ihnen dabei nicht so gut gegangen wie uns jetzt. Dafür werden wir nicht in die Geschichtsbücher eingehen…stattdessen haben wir unseren Blog und schreiben unsere eigene Geschichte… 😉

Das Leben ist erfahrungsgemäß nicht immer nur aus Milch und Honig, sondern manchmal auch wie ein Dahinsiechen in einer grauen, verregneten und saukalten Stadt einer ehemaligen Sowjetrepublik in Zentralasien. Ich glaube aber, dass man im Leben viel öfter die Wahl zwischen Wahrheit und Freiheit auf der einen Seite und zu weit ins Unheil gehenden Kämpfer- oder gar Märtyrertum auf der anderen Seite hat, als man es gelernt hat oder verstehen will…viel zu oft hält der Mensch an längst ausgedienten und nicht mehr der inneren Wahrheit entsprechenden Umständen, Vereinbarungen und Plänen fest und nennt das dann womöglich noch ganz edel „Treue“.

Habe ich mit meiner Reise nicht eine ganz bewusste Wahl getroffen?! Ja! Und dennoch verrennt man sich als Krieger zwischendurch wieder in anderen Wegen, um sich dann zur Erinnerung den Kopf schmerzhaft anzurennen und erneut festzustellen: Die wahre Revolution und Befreiung hat nichts mit heldenhaftem Kampfe zu tun und sie findet vor allem nicht im Außen statt…ganz im Gegenteil…

Fazit: Die Seidenstraße haben wir also nicht „gemacht“, und das hat für mich eine ganz große Bedeutung und macht mich jetzt so froh, dass ich fast gerne ein T-Shirt tragen würde, auf dem drauf steht, wo ich überall nicht gewesen bin. Aber was wäre das denn für ein blödes T-Shirt? Viel schöner ist da schon die Freude darüber, mit wie viel Humor, Leichtigkeit und auch Gelassenheit und Geduld der Nane und ich gemeinsam durch die sehr dichten und zähen letzten Tage gegangen sind, bis wir beide endlich klar sehen und die Entscheidung von Samarkand zusammen treffen und die Lehre freudig annehmen konnten. Juhui!

Meinen Rucksack hab ich hier um ein paar Kilo erleichtert und unser Vermieter freut sich jetzt über eine kleine Reiseführerbibliothek zum Thema Seidenstraße, deren Wert fast eine Verdoppelung der Zimmerpreise und die Verleihung des ersten Sternes rechtfertigen würde. Dafür ist auch mein Herz leichter geworden und einiges an Druck abgefallen. Übrigens werden auch andere Menschen ein wenig durcheinander gebracht hier, wie zum Beispiel Uwe, der unerschütterliche Langzeitreisende aus Hamburg, der die letzte Nacht hier laut hörbar durchgekotzt hat…er reist aber weiter, versteht sich…wie dem auch sei…

Danke, du Stadt mit dem großen Namen SAMARKAND, die Tage hier bleiben unvergessen! Die Reise hierher hat sich voll ausgezahlt, wenn auch so viel anders als erwartet! Danke dem unsichtbaren Henker von Samarkand, dass er nicht gar zu lange herumgefackelt hat. Es hat gar nicht so wehgetan, good job!

beim Abschiedsspaziergang hat es wieder aufgeklart

beim Abschiedsspaziergang hat es wieder aufgeklart

Bei aller Dankbarkeit aber: wir müssen jetzt endlich weg von hier und uns ein wenig aufwärmen. Adieu Samarkand, adieu Usbekistan, adieu Zentralasien!!!!!!!

Ich nenne den Artikel für mich persönlich auch „Cerro Rico – Machu Piccol – Mujer Mundo – Copan – Mekele – Aquaba – Samarkand…“, dessen Bedeutung versteh aber nur ich, hehehe! Gracias Keme!

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7 Gedanken zu „“Die Lemminge drehen um” oder “Die Lehre von Samarkand”

  1. muma

    Danke für das Teilhabenlassen an diesem doch sehr geschmeidigen (um in deiner Sprache zu bleiben) Zwischenresümee- entstanden direkt an der Seidenstraße- sehr ansprechende Gedanken!
    In Liebe
    muma

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  2. Stefan

    Hola Hermano,

    bin schwer beeindruckt, wie Ihr die Reise in Samarkand zu einem Wendepunkt gebracht habt.
    Ich wünsche Dir und Euch auf jeden Fall viel Freude, wenn´s jetzt in die Richtung geht, die Euer Herz vorgibt.
    Alles Gute und muchas gracias, dass wir Leser an Euren äußeren und inneren Abenteuern teilhaben dürfen.
    Stefan

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  3. erwin

    Hallo Jörg,
    die schönste Beschreibung für “Heimweh” die ich je gelesen haben. Der Mensch kann sich nur in sich selbst finden. Schön, dass du – ihr – Eure Stimmen wahrnehmen könnt. Viel Freude für die nächste Etappe.
    Erwin

    Antworten
  4. sit

    zu beginn deiner reise stand in deinem blog:

    …Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
    der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
    an keinem wie an einer Heimat hängen,
    der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
    er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten!
    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
    und traulich eingewohnt,
    so droht Erschlaffen!
    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    mag lähmender Gewohnheit sich entraffen.

    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
    uns neuen Räumen jung entgegen senden:
    des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
    Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

    -Hermann Hesse-

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  5. Christian Horvath

    Gratuliere zu eurer mutigen Entscheidung, ganz vom Gaspedal zu steigen und auf das zu warten, was euch eingeflüstert wird. Hier in Neuseeland wird es auch schon herbstlicher, dafür gehts dann am 9. Mai ab nach Südindien. Die volle Kraft der Stille wünscht euch Christian

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  6. Hannes Buchinger

    Joergele, das Wort HERZENSAUFTRAG wird mit Sicherheit ab nun mein staendiger Begleiter sein. muchas gracias!
    (ich lade gerade meine Fotospeicherkarte am Hotel-PC herunter. Es dauert 68 Minuten…es bleibt genuegend Zeit fuer Deine Texte, die meinetwegen immer so lange sein duerfen…)

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