Also war ich da draußen bei Len und seiner Familie. Im kleinen und bescheidenen Haus leben sechs Leute. Len…seine Frau Pohutu…Moe, eine ihrer vielen Töchter, ihr Mann Daz und deren zwei kleinen reizenden Töchter Kiri und Bella. Rund ums Haus tummeln sich ca. 15 Katzen, 20 Hunde und viele schöne Reitpferde. Len ist auf der Farm angestellt und passt auf die Tiere auf. Die Farm gehört der Community und der Profit wird auf die Familien verteilt. Die wenigsten Leute haben aber ein geregeltes Arbeitsverhältnis und viele Junge wandern in die Stadt ab, weil es da draußen wenig Beschäftigung gibt. Die Schafe und Kühe brauchen nicht so viel Aufmerksamkeit, weil sie das ganze Jahr über im Freien grasen können. Len hat ein Riesengebiet über, das er normalerweise via Pferd durchquert und so nach dem Rechten sieht. Die wichtigste Freizeitbeschäftigung da draußen im Busch ist die Jagd und das Fischen. Es gibt jede Menge Wildschweine und Hirschen, jeder darf ohne Lizenz jagen, soviel er oder sie will. Auch Frauen hängen sich gerne eine Flinte um und holen sich ein Wildschwein aus dem Busch. Die Flüsse sind noch voller Forellen und Aale, die hier sehr gerne verspeist werden. Auch die Jagd dient vor allem als Nahrungsquelle – das Fleisch wird immer mit der ganzen Nachbarschaft geteilt, so wie in alten Zeiten. Die Leute leben sehr nahe an und mit der Natur. Die Freizeit wird mit der Familie und in der Gemeinschaft verbracht. So wurde auch ich gleich einmal allen vorgestellt und hierzulande sind mit „allen“ nicht nur die Lebenden, sondern auch die verstorbenen Ahnen gemeint.
Also hat mich Len gleich einmal auf einen Spaziergang ins größte der 12 Maraes mitgenommen, die es in der kleinen Gemeinde gibt, um mich einmal bei den Ahnen vorstellig zu machen. Mit den Worten „Waiwai Tapu“ erbittet man um Einlass und dann wird man aufgenommen in den Kreis der Familie.
Len und seine Leute gehören zum Stamm der Tuhoe-Maoris, sein „Hapu“ (Unterstamm) heißt Tamakaimoana. Die Familienzugehörigkeit ist da draußen ganz ein wichtiges Ding, manche Maoris können ihre Herkunft angeblich bis zu den ersten Kanus zurückverfolgen, die über den Ozean gekommen sind. In den Maraes hängen immer Bilder von den Ahnen der verschiedenen Familien, oft uralte Aufnahmen aus alten Zeiten. So wurde ich auch auf einen der letzten großen Maori-Propheten aufmerksam, der vor ca. 100 Jahren im kleinen Dorf draußen gewirkt und seine Botschaft von Einheit und Liebe unter sein Volk gebracht hat, bevor er wohl zu einflussreich und deshalb von den Kolonialherren beseitigt wurde. Sein Name war Rua und rund um ihn ist damals draußen im Busch, wo heute nicht mehr viel ist, eine Stadt von ca. 1000 Leuten entstanden – direkt unter dem Heiligen Berg Maungapohatu, auf dessen Gipfel seit ganz alten Zeiten die Häuptlinge des Volksstammes begraben wurden. Genau dorthin wollte mich Lenny im Verlauf der nächsten Tage bringen, direkt ins Herz ihres spirituellen Erbes…
Die Familie hat mich gleich voll in alles mit integriert, ich fühlte mich wie daheim und wurde dazu auch richtig verwöhnt. Kulinarisch fehlt sich bei den Maoris sowieso nichts. Len hat sich von der Arbeit frei gemacht und mir viel in der Umgebung gezeigt. Ich wurde zu den verschiedenen Maraes gebracht, wo ich auch zusammen mit Len und seiner Frau die Nächte verbracht habe, so wie es hier üblich ist. Links vom Eingang der ortsansässige Häuptling und seine Leute, rechts vom Eingang die Besucher. Im Marae schläft es sich ausgezeichnet, es ist schön dunkel und heimelig – das Gebäude mit seinen typischen Bauteilen repräsentiert auch so etwas wie einen Mutterleib, in dem die Gemeinschaft Geborgenheit und Ruhe findet. Das Marae ist ein heiliger Ort, wo man sich entsprechend benimmt, was hier aber auch immer den Humor mit einschließt. Die Präsenz der Ahnen ist im Marae stark spürbar und wenn man in die Gesichter der Verstorbenen auf den Bildern sieht, dann bekommt man auch Respekt. Aufgefallen sind mir die vielen Bilder von jungen, uniformierten Männern, die im zweiten Weltkrieg und in Vietnam fernab der ihrer Heimat (bis hin nach Italien) als Teil des angeblich sehr ruhmreichen Maori-Bataillons gestorben sind.
Im Marae werden nicht nur Besucher empfangen und versorgt, hier finden auch Gottesdienste und Ratsversammlungen, wichtige Treffen und Besprechungen etc. statt. Ich habe die Maraes in ihren unterschiedlichen Qualitäten in meinen Tagen da draußen auch als Ort der Stille und Meditation sehr schätzen gelernt.
Am zweiten Tag haben wir uns auf den Weg in Richtung des Heiligen Berges Maungapohatu gemacht, wo wir auch die Nacht im im Busch gelegenen Marae verbringen wollten. Der von Lens Schwester ausgeborgte Pickup hat irgendwann am Bergrücken oben gestreikt und so sind wir zu zweit auf eine ausgedehnte Wanderung gegangen, während Pohutu, Lens Frau, im Auto auf uns gewartet hat. Wir haben uns in aller Ruhe die weite Gegend angeschaut, sind durch den mystischen Nebelwald gewandert und haben uns gegenseitig Geschichten erzählt.
Mit Len hatte ich echt sehr ergiebige Gespräche. Er ist ein sehr einfacher Mann, wenn man ihn so sieht, aber man würde ihn sehr unterschätzen. Denn Len ist wohl der Maori, der mir von allen, die ich getroffen habe, am meisten über seine Kultur vermittlen konnte – ein wandernder Wissenspeicher, ein Eingeweihter und Ältester seines Volkes. Kaum eine Frage, die er nicht beantworten kann…über die Natur in seiner Heimat (Heilpflanzen, etc…), Geschichtliches, Soziales, Politisches, Spirituelles. Letzteres durchwirkt auch sein ganzes Leben. Vermittelt wird das hier traditionell über sehr bildhafte Geschichten, alte Sagen und Mythen, die auch Len gerne erzählt und teilweise auch selber schreibt. Wir hatten einen großartigen Austausch und verstanden uns wie Brüder.
Ich dachte eigentlich, dass mit dem Zusammenbruch unseres Autos auf halber Strecke die Fahrt zum Maungapohatu erledigt wäre, und ich war auch froh über das, was ich auf unserer Wanderung gesehen hatte. Aber Len wollte mich unbedingt dorthin bringen. Also sind wir die eineinhalb Stunden über Stock und Stein mit der überhitzten Karre zurückgefahren, haben ein anderes Auto genommen und uns wieder auf den Weg gemacht. Len sagte, wir haben eine Mission vor und er mag es nicht, wenn Dinge unabgeschlossen bleiben. Mir war das nur sehr recht.
Am Weg erschloss sich dann der Blick auf einen beeindruckenden Berg und als ich fragte, welcher das denn sei, hörte ich, dass es sich dabei um den Heiligen Berg handelte. Er war schön vom Sonnenlicht bestrahlt. Len und Pohutu waren nur so entzückt, weil sie das selber selten so sehen. Normalerweise ist der Berg so wie der gesamte Rücken fast immer in Nebel gehüllt, die die großen Mysterien in Verschleierung hüten. Unser Ausflug sei gesegnet, hieß es, und alle waren froh.
Nach mehrstündiger Fahrt kamen wir draußen auf einer Art Alm an, wo das verlassene Marae und ein paar alte Hütten aus der Zeit des Propheten stehen. Dort wollten wir die nächsten 24 Stunden verbringen. Es waren ein paar Männer da, die ein neues Blockhaus zu bauen begonnen hatten, Richard und Tani – letzterer ein Enkel das Propheten. Mit ihnen hatten wir gleich eine super Gemeinschaft, so wie es hier üblich ist. Wir hielten eine gemeinsame Zeremonie ab und erzählten uns dann Geschichten bis tief in die Nacht hinein. Als sich alle ins Marae zum Schlaf zurückgezogen hatten, nutzte ich die Ruhe und Tiefe der Nacht für mich im Freien, bevor ich dann auch schlafen ging.
Die Natur da draußen ist wunderbar, ich bin nach einem ordentlichen Frühstück mit Len in den Wald gegangen und war umgeben von Schönheit.
Am Nachmittag fuhren wir wieder langsam zurück ins Dorf, wo die ganze Familie wieder zusammenkam. Hauptthema war ein Film, der gerade von einem 50-köpfigen Team aus der Stadt im Nachbardorf gedreht wurde. Von Lens unzähligen Cousins, Neffen und Nichten hatte fast jeder eine Statistenrolle bekommen. Der Titel des Films ist „The Medicine Woman“ und alle haben es amüsant gefunden, dass die Hauptrolle der traditionellen Maori-Medizinfrau von einer Schauspielerin aus der Stadt gespielt wird, während Pohutu gleichzeitig als die wichtigste und stärkste traditionelle Heilerin der Gemeinde von einem Patienten zum nächsten fährt, um diesen zu helfen. Gesundheitsprobleme haben die Maoris auch in dieser abgelegenen Gegend heute mehr denn je. Das Durchschnittsalter ist in den letzten 20 Jahren stark gesunken aufgrund von „moderner“ Ernährung, Alkohol etc…
Ich habe in meinen Tagen da draußen nicht nur tiefe Einblicke in das alltägliche Leben in einer abgelegenen Maori-Community bekommen, es war viel mehr als das. Ich habe jetzt noch eine Familie mehr in Neuseeland, ich habe mein Verständnis für Gemeinschaft und Familie ganz wesentlich erweitern können und viel Inspiration bekommen, was Gemeinschaft angeht. Ich habe viel über die Kultur und Spiritualität der Maoris gelernt und mich mit einem ihrer heiligsten Orte verbinden dürfen, dem Maungapohatu im Zentrum der Insel. Die Nebel haben sich für mich geöffnet und ich durfte meinen Einblick nehmen. Danke Len, danke Pohutu und all den anderen Leuten, die mich da draußen in ihren Kreis so herzlich aufgenommen haben.
Den letzten gemeinsamen Vormittag haben wir sehr still verbracht. Pohutu war bei der Arbeit, Len und ich haben die vergangenen Tage in der Stille und mit wenigen Worten Revue passieren lassen. Zum Abschied hat er mich dann noch einmal mit einer ganz anderen Seite von sich überrascht. Len schreibt auch Gedichte in seiner Sprache, die – wenn vorgetragen – eine besondere Kraft haben, auch wenn ich kein Wort davon verstehe. Und so hat er auch ein Gedicht über unsere gemeinsamen Tage geschrieben und mir zum Abschied vorgetragen. Ich war zu Tränen gerührt. Die englische Übersetzung klingt nur halb so stark wie in Maori, und es ist laut Len auch so, dass man viel nicht richtig übersetzen kann. Dennoch hat er mir das Gedicht auch auf Englisch vorgetragen und auf einem handgeschriebenen Zettel zum Abschied in die Hand gedrückt (Link zum Gedicht). Eine Umarmung, „We don´t say Goodbye, we say see you again!“. Wie mir auch kullerte dem tapferen Maori-Krieger beim Abschied eine Träne über die Wange – keine Traurigkeit, sondern Rührung und Dankbarkeit. Aber er versicherte mir gleich, dass das nicht oft passiert, und schon haben wir wieder gelacht…
Eigentlich hätte mich eine Nachbarin in das zwei Stunden gelegene Rotorua mitnehmen sollen. Jedoch ließen es sich Moe und Pohutu nicht nehmen, mich dort persönlich hin zu führen und das gleich mit ein bisschen Shopping in der Stadt zu verbinden. Len blieb daheim, der pfeift auf Shopping. Der Wiedereinstieg in die „Zivilisation“ fiel mir nach nur drei Tagen im Busch gar nicht leicht, es fühlte sich an, als wäre ich viel länger weg gewesen.
Die Zeit in Roatahuna bei den „Kindern des Nebels“ war wunderbar und bleibt unvergessen, ich trage sie im Herzen. Und ich würde mich freuen, meine Leute dort irgendwann wieder zu sehen…Muchissimas Gracias!
Als ich dann in Rotorua im Backpacker´s zwischen den anderen Reisenden meine Sachen ausgepackt habe, wurde mir dann noch mehr bewusst, wie schön sich mir Neuseeland bisher geöffnet hatte. In drei Wochen habe ich nur zwei Nächte in Touriquartieren verbracht, nur einmal bin ich mit dem Bus gefahren. Den Rest der Zeit war ich in Familien integriert und habe Gemeinschaft, Liebe, Austausch und Nähe erfahren dürfen, ich wurde überall herzlich aufgenommen, eingelassen und beschenkt, fühlte mich wahrlich zuhause. Was viele nicht einmal in ihrer eigenen Familie oder bei ihren eigenen Leuten kennen, das bekomme ich hier als Fremder am anderen Ende der Welt – was für eine wunderbare Erfahrung, was für ein Segen, was für eine Botschaft! Danke, danke, danke!
Sehr schön.
Kia ora, my name is Ruahine and I am hoping you would translate the pictures. I am of Tuhoe descent and whakapapa to Mataatua Marae. By the way, I love your pictures…
Nga mihi
Ruahine