Nach einer Woche Ruhe und Frieden im Zentrum hatte ich erst ein wenig Mühe, mich wieder an die normale Geschäftigkeit und den allgegenwärtigen Wirbel auf den Straßen Guatemalas zu gewöhnen. Ich hatte aber keine Wahl, schließlich galt es eine Vereinbarung einzuhalten…
Am Donnerstag, dem 19.11., war mein guter Freund und ehemaliger Bürokollege bei Biotop, Gerhard, am Flughafen in Guatemala City abzuholen. Gerhard hat so wie ich ein paar Jahre brav gedient und ein bisschen Knete zur Seite gelegt, um sich schließlich jetzt den Traum einer längeren Reise zu erfüllen. Sein mittelfristiges Ziel ist es, eine Yacht zu finden, die ihn für ein paar Wochen oder gar Monate durch die Karibik mitnimmt, so wie das unsere gemeinsame Freundin Karina im Vorjahr vorgezeigt hat. Den Start seiner Reise hat er aber nach Guatemala verlegt, um mich hier zu treffen und herauszufinden, was hier so faszinierend ist. Und die Karibik ist ja dann nicht mehr weit, wenn man erst einmal hier ist…
Als ich Gerhard planmäßig in der Stadt abgeholt habe, war die Freude beiderseits groß. Wir sind, so wie das fast alle Ausländer machen, direkt vom Flughafen nach Antigua gefahren, die alte Hauptstadt des Landes, die mit kolonialen Bauten und touristischer Infrastruktur, vor allem netten Lokalen, punktet. So haben wir erst mal Wiedersehen bei Speis und Trank gefeiert, sowie ein paar Pläne für die kommende Zeit geschmiedet.
Ich kenne ja Guatemala schon in- und auswendig und fühle mich hier fast so zuhause wie daheim in Österreich. Für Gerhard war es aber doch ein beeindruckender Tapetenwechsel.
Am zweiten gemeinsamen Tag sind wir zum Pacaya aufgestiegen, einem aktiven Vulkan, und einem der wenigen Orte auf der Welt, wo man als Tourist so nahe an die flüssige Lava heran darf, dass man mit dem Spazierstecken in dieser umrühren kann. Ich war dort schon zum vierten Mal oben, es ist jedes Mal anders und ein beeindruckendes Erlebnis. Die Lava, der Sonnenuntergang und der Blick auf die Vulkankette, die sich durch das Land zieht.
Von Antigua sind wir am Tag darauf gleich mal Richtung Hochland gefahren, um dem „richtigen“ Guatemala etwas näher an die Pelle zu rücken. Zuallererst fuhren wir an den geliebten Lago Atitlan und checkten in Panajachel ein, wo Gerhard erstmal einen Eindruck davon bekommen sollte, was hier rein landschaftlich schon so reizvoll ist, dass viele Leute – so auch ich – immer wieder gerne hier her kommen. Der Lago hat überzeugt, trotz momentaner Veralgung.
Schon am nächsten Tag stand ein weiteres touristisches „Must“ Guatemalas am Programm. Der Markt von Chichicastenago wird als der bunteste Indianermarkt der Welt bezeichnet, ich hab auch noch keinen besseren gesehen. Jeden Donnerstag und Sonntag rücken unzählige Standler aus der näheren und weiteren Umgebung aus dem Hochland mit ihrem ganzen Kramuri an, um diesen am Markt von „Chichi“ feilzubieten. Die kleine Stadt geht an den Markttagen über mit Leuten, es ist ein einziges Gedränge aber auch ein Riesenspaß und pulsierendes Leben schlechthin.
Am Weg nach Chichi liegt ein gut versteckter, aber mir wohlbekannter Naturaltar der Maya, der besonders in seiner Qualität der Wegöffnung erkannt und geehrt ist: „Tesoro Mundo“, der Schatz der Welt. Dort machten wir in der Früh für Gerhard ein kleines, aber feines Wegöffnungsritual nach lokaler Tradition der Feuerzeremonie. In diesem Kulturkreis ist es üblich, an wichtigen Schwellenpunkten des Lebensweges (und an so einem steht mein Freund) um einen heilvollen Übergang und die weitere Öffnung des Weges und um Schutz auf diesem zu bitten, sowie die Bedeutung des Zeitpunktes in die Aufmerksamkeit und das eigene Bewusstsein zu nehmen. Eine sehr schöne und auch wichtige Sache, die dem Gerhard sichtlich wohl getan hat.
Ein kleiner Exkurs: Die Mayazeremonie mit all ihrem Aufwand von Material, Zeit, Anreise, Aufmerksamkeit und HinGABE wird hier oft als eine Form des TOJ (Sprich: Toch) bezeichnet. Unter TOJ versteht man ganz allgemein die Lebenshaltung, dass man über das GEBENDE Prinzip den Fluss des Lebens in Gang hält. Dies sollte bei Vorhandensein eines gewissen Entwicklungsstandes jedoch nicht aus dem Kalkül, sondern aus dem Herzen erfolgen. In dieser Haltung waren auch wir am Tesoro Mundo. So wie ich es gelernt habe, wird über ein Ritual stets das ins Leben gebeten, was im Dienste und im göttlichen Sinne unserer Seele steht, und nicht das, was unserem menschlichen Wollen und dem persönlichen Willen entspringt. Der letztere Ansatz würde in den Bereich der Magie und den Missbrauch derselben führen, wie er ja auch weltweit – bewusst oder unbewusst – laufend betrieben wird, und sei es nur im alltäglichen Umgang mit der Macht von Gedanken und Sprache. Kurz gesagt legt man über das Mayritual den menschlichen Lebens- und Entwicklungsweg in die Hände Gottes.
Ganz leicht sollte es dem Gerhard dann dennoch nicht gemacht werden, denn ihm sollte hier sozusagen als „Eintritt“ in diesen Kulturkreis ein doch beträchtlicher TOJ abverlangt werden. Wenig später und ein paar Pickup-Kilometer weiter…
Hier die Kurzfassung: Ich bin nach der Ankunft in Chichi (sprich TschiTschi) mal gemütlich Richtung Kirche marschiert, einem angenehmen Ort, wo man in all dem Gedränge rundherum eine schöne Übersicht bekommen und genießen kann.
Der Marktfreund Gerhard hat sich jedoch seine Sache nicht nehmen lassen und ist – trotz seiner langen Reiseerfahrung, die er in den letzten Ecken der Welt gesammelt hat, und insofern ist es noch unverständlicher – komplett blauäugig und fasziniert in den Gemüsemarkt von Chichicastenango hineingeköpfelt, um schon nach fünf Minuten im Gedränge kreidebleich festzustellen, dass ihm einer von den lieben kleinen Indianern sein komplettes Geld mit Kreditkarten und Reisepass aus der dann doch etwas zu exponierten Außentasche seiner Hose gefladert hat. Was für ein SCHOCK! Als Gerhard wie der geölte Blitz zwischen den Indianern aufgetaucht ist und auf mich zugesteuert kam, wusste ich schon, dass etwas nicht stimmt. Ich hab den Gerhard beruhigt, dass sich all diese Dinge regeln lassen und dass der Verlust eben vor allem ein materieller sei. Auf der Polizei wurde ein Protokoll geschrieben und klargemacht, dass hierzulande nichts wieder auftaucht, was erst einmal weg ist – eh klar! Mit einer Mischung aus tiefer Geknicktheit und übertriebenem Galgenhumor sind wir noch kurz am Markt gewesen, aber dann auch schon bald wieder abgefahren, die Freude war erstmal weg.
Wir haben uns beide genug Gedanken auf unsere jeweilige Weise gemacht, wozu denn das alles wieder notwendig gewesen sei. Wie dem auch sei, ich kann nur sagen, dass es bei all den Unannehmlichkeiten auch einen positiven Aspekt an der Geschichte gibt: in Ländern wie diesem ist es die angenehmste Art, Dinge abgenommen zu bekommen, wenn man dies im Moment nicht mal merkt und keine Gewalt im Spiel ist. Gerhard hat seinen TOJ auf eine relativ schmerzlose Art abgeliefert. Es gäbe genug andere Geschichten, die in den Revolverblättern auf der Straße nachzulesen sind aber hier auf diesem Blog sicher keinen Platz bekommen. Guten Schutz und Führung kann man in diesen Regionen der Welt nicht genug bekommen. Die Dunkelheit schlägt hier viel unmittelbarer zu, als dies in unserer tausendfach abgesicherten Welt daheim der Fall ist, und sehr schnell kann man als Reisender ziemlich in Turbulenz geraten. Doch eines ist auch klar: die Lichtseite des Lebens zeigt sich hier auch viel direkter, das erfährt man auf Schritt und Tritt, und man sieht es in den vielen lächelnden Gesichtern. Für die hat sich Gerhard recht bald ganz tapfer und cool wieder öffnen können, und das ist schön! Jeder der Menschen hier, denen man diese Geschichte erzählt, ist voller Anteilnahme und Mitgefühl. Und eines haben sie aus ihrer tief sitzenden Indianerweisheit fast alle gesagt: „Gerhard wird hier noch reich belohnt werden.“ Das glaube ich auch…und ich hoffe, dass der “Einritt” jetzt bezahlt ist.
Gerhards neuer Reisepass und die Bankkarten sind bereits auf dem Weg hierher und schon in zwei Wochen ist der ursprüngliche Status wiederhergestellt. Die Zeit wollten wir sowieso hier verbringen. Die Kosten der Aktion sind schon beträchtlich, aber Gerhard nimmt es mittlerweile mit seinem großen Humor. Apropos Humor: der aufgelegte Witz, dass ich wohl im Mayaritual eine Zutat vergessen haben könnte, wurde von uns schon weggelacht und braucht nicht erst gemacht werden. Wir sind froh, dass bis auf den Schrecken und dem Abhandenkommen von ein paar Papierlappen nichts passieren musste, und dass wir unseren Weg, wohin auch immer der gehen wird, in voller Gesundheit, Kraft und Freude fortsetzen können. Auf Märkten waren wir auch schon wieder, wie hier am Markt von Solola.
Die Wartezeit auf Gerhards Papiere nutzen wir jetzt zum Spanischlernen und Entspannen am Lago Atitlan, es ist nicht gerade unangenehm hier…
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Leider sind durch irgendeinen Internet-Teufel alle Kommentare der letzten 2 Monate geloescht worden. Sorry, ich war es nicht. Joerg